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Das stille Glück der Nichtbesucher

Über einen oft zu wenig bedachten Nutzen von Museen und anderen Kultureinrichtungen

25.09.2023

Es ist schön und lobenswert, wenn Museen sich bemühen, möglichst alle Teile der Bevölkerung anzusprechen und ihnen Anreize und Vermittlungen – sozusagen Appetitanreger und Verdauungshilfen, Apéritifs und Digestifs – zu der nicht immer unmittelbar ansprechenden oder leicht verdaulichen Kost der Hochkultur zu bieten. Denn wenn die ganze Öffentlichkeit für die Kultur bezahlt, soll schließlich möglichst auch die ganze Öffentlichkeit an ihren Leistungen teilhaben – und nicht etwa nur jener kleine, kulturaffine und gutsituierte Teil der Bevölkerung, der seine Einkünfte ohnehin nach Möglichkeit eher auf Malta oder auf den Malediven versteuert.

Wenn beflissene Kulturpolitiker und Bürokraten aber darangehen, die Leistung der Museen, Theater und anderer Kultureinrichtungen vorwiegend nach deren nackten Besucherzahlen zu bewerten, dann übersehen sie etwas Entscheidendes – so wie übrigens alle, die solch luftige, nicht leicht zu erfassende Dinge wie Kultur, Esprit oder innovative Gedanken nach den leider erbärmlich primitiven, quantitativen Kriterien von Evaluierungen zu beurteilen versuchen. Selbst in der deutlich handgreiflicheren Sphäre des zeitgenössischen Fussballs hat man ja inzwischen längst erkannt, dass quantitative Parameter wie Ballbesitz, Zweikampfquote, Passquote, Zahl der Torschüsse oder zurückgelegte Laufdistanz nichts über den Ausgang eines Spiels verraten. Auf den Gebieten der Kultur und des Geistes ist man von solch kluger Einsicht, wie sie die Fussballexperten schon seit einer Weile besitzen, aber leider oft noch weit entfernt.

Was durch das derzeit so modische Quantifizieren und Messen in der Kultur leicht übersehen wird, ist etwas genuin Kulturelles – nämlich dass Kultur zu einem wesentlichen Teil in der Aufrechterhaltung von Fiktionen besteht. Wir treffen hier auf ein hübsches Paradoxon: Die Wirklichkeit der Kultur besteht vor allem in jenen Dingen und Veranstaltungen, welche die Einbildung von Kultur nähren. Das lässt sich schon an der Kulturgeschichte ablesen. Die ersten Häuser zum Beispiel, die die Menschheit überhaupt baute, wurden von ihr in der Regel nicht bewohnt. Als Pyramiden, Tempel, Kathedralen, Paläste dienten sie vielmehr zur Aufrechterhaltung einer Fiktion – meist von Macht oder Religion oder beidem zugleich. Und wenn die Menschen sich doch einmal dort einfanden, wie zum Beispiel die angeblich so frommen Bewohner des Mittelalters, dann mussten die Pfarrer sie energisch ersuchen, das Blasphemieren und das Würfelspiel am Altar zu unterlassen.

Auch in den rituellen Praktiken lässt sich dies erkennen. Menschen früherer Religionen bedienten alle möglichen Geräte, um den Eindruck von Religiosität zu erwecken, ohne selbst dabei zu sehr beansprucht oder involviert zu werden. Der Philosoph Slavoj Zizek hat dieses allgemeine Funktionsprinzip hellsichtig am Beispiel der tibetanischen Gebetsmühlen beschrieben:

„Man schreibt eine Bitte auf ein Papier, steckt das zusammengerollte Papier in eine Gebetsmühle und dreht diese mechanisch, ohne zu denken (oder […] man […] heftet es an eine Windmühle, so daß es vom Wind bewegt wird). Die Gebetsmühle betet also für mich, an meiner Stelle oder, um den Sachverhalt präziser auszudrücken, ich selbst bete durch das Medium der Gebetsmühle. Ich kann demnach - und das ist das Schöne daran - in meinem psychologischen Inneren denken, woran immer ich will; ich kann mich den schmutzigsten und obszönsten Phantasien überlassen, das schadet nichts, weil ich - um den guten, alten stalinistischen Ausdruck zu verwenden - objektiv bete, was immer ich auch denken mag."

Mit einem Wort aus der neueren Kulturtheorie kann man das Prinzip dieser Praktiken auch als "Interpassivität" bezeichnen. Interpassive Praktiken, Geräte und Bauwerke ersparten den Menschen religiöses Engagement – und zwar gerade bei Erweckung des gegenteiligen Eindrucks. Nicht die Menschen selbst mussten ihre Religion konsumieren und somit ihre "Passivität" (als die das Konsumieren in der Regel – ob nun zu Recht oder zu Unrecht – betrachtet wird) ausüben. Vielmehr erledigten ihre Dinge und Veranstaltungen dies stellvertretend für sie. An solche Stellvertreter konnten die Menschen ihre "Passivität" delegieren.

Je älter die Religionen waren, desto mehr rituelle Maschinen und desto imposantere Fabriksgebäude kamen zum Einsatz, um irgend jemand anderen zu beeindrucken. Die Menschen selbst waren dadurch von religiösen Konsumtionsleistungen wie dem Glauben weitgehend entlastet. Man kann darum ohne Übertreibung sagen, dass selbst noch in der uns kulturell vergleichsweise vertrauten griechischen und römischen Antike es eher die Götter waren, die an die Menschen glaubten, als umgekehrt.

Erst relativ spät in der Kulturgeschichte scheinen Menschen auf die Idee gekommen zu sein, ihre Religiosität selbst, sozusagen in Handarbeit (z. B. gefalteter Hände) verfertigen zu müssen. Diese Tendenz steht in eigentümlichem Gegensatz zu der bekannten Entwicklung im Sektor der produktiven Arbeit, wo ja nach jahrtausendelanger mühseliger Handarbeit mit minimalem Geräteeinsatz der Erfindergeist der Menschen es diesen schließlich ermöglichte, ihre Arbeit mehr und mehr an Maschinen zu delegieren. Während die Menschen in der Sphäre der ökonomischen Produktion sich also zunehmend entlasteten, haben sie seltsamerweise in jener der religiösen Reproduktion (beziehungsweise Konsumtion) sich zunehmend selbst in die Pflicht genommen.

Aber zum Glück müssen die Menschen auf dem Gebiet der Kultur noch nicht alles selber machen. Wir würden sonst wohl auf das Niveau einer durchgängig amateurhaften do-it-yourself- und Bastlerkultur herabsinken (womit, wohlgemerkt, nichts gegen Bastler oder das Basteln gesagt sein soll; sondern lediglich gegen dessen Eignung zum universellen Kulturprinzip!). Gerade auf dem Gebiet der bürgerlichen Kultur, die ja in vielem den einst der Religion vorbehaltenen Prunk ins Säkulare übertragen hat, besitzen wir noch großartige Ritualapparate: Staatsopern und -theater, Bundesmuseen und staatlich geförderte Festivals und Kultureinrichtungen bilden innerhalb einer beeindruckenden kulturellen Kriegsmarine sozusagen die Schlachtschiffe und Flugzeugträger; diese werden von den vielen halb- und ganz unabhängigen Institutionen der mehr oder weniger freien Kulturszene als ihren Kreuzern, Fregatten, Korvetten, Zerstörern, U-Booten, Versorgungsschiffen und Schaluppen flankiert.

Und so, wie eine Kriegsmarine eine Drohung aufrechterhält, halten unsere geduldig dahinschlingernden kulturellen Bruttoregistertonnen die Kultur hoch: eben als Fiktion. Nicht wir selbst müssen darum an die Kultur glauben oder viel über sie wissen oder gar zu den Veranstaltungen hingehen. Wo kämen wir hin, wenn ein jeder plötzlich Passagier oder Matrose sein müsste! Aber sobald die Fiktion der Kultur hochgehalten ist – was vielleicht den entscheidenden Aspekt des Begriffs "Hochkultur" überhaupt darstellt – braucht sich niemand mehr Sorgen zu machen, denn alle sind nun kulturell so geschützt wie die Staatsbürger einer Seefahrernation durch ihre Kriegsmarine.

Die Kultur dampft massiv vor sich hin und beeindruckt und überzeugt damit irgend jemand anderen (bei Griechen und Römern waren es noch deren Götter). Und wir lassen sie einfach für uns laufen, auch wenn wir selbst uns währenddessen vielleicht, wie Slavoj Zizek spekulierte, unseren "schmutzigsten und obszönsten Phantasien" überlassen. Genau in diesem Sinn hat der berühmte, feinsinnige Kulturtheoretiker Roland Barthes einmal treffend bemerkt: "Ich habe das Theater immer sehr geliebt, und dennoch gehe ich fast nie mehr hin." Genau das leisten die Theater für uns; und zwar je größer sie sind, desto besser: Man kann zwar auch hingehen, aber das Wichtigste ist doch ihr Beitrag zur Aufrechterhaltung der Kultur als Fiktion, die uns alle, was immer wir auch tun, gleichsam mit einem gnädigen, schützenden und anmutigen Schleier der Kultiviertheit überzieht.

Wir haben uns diesbezüglich, wenn wir die Teilhabe möglichst aller an der Kultur im Blick hatten und uns dies in Gestalt persönlicher Anwesenheit vorstellten, vielleicht ein wenig von den Worten täuschen lassen. Wir verstanden "Teilhabe" im Sinn von "Partizipation" und schlossen daraus, nur wer kommt und mitmacht, würde auch etwas vom Kuchen der Kultur bekommen. Aber dies war wohl ein Irrtum. Er lässt sich leicht aufklären – und da wir in der Kultur ohnehin immer mehr aufs Geld schauen, sollten wir auch in diesem Punkt die Ökonomie zu Hilfe nehmen. Dort beobachten wir ja immer öfter, dass keineswegs diejenigen, die arbeiten und mitmachen, mit großen Gewinnen aussteigen, sondern dass vielmehr solche, die oft gar nichts arbeiten und überhaupt nicht mitmachen, die saftigsten Renditen einstreifen. Genau so sollten wir, mit all unserem "kulturellen Kapital", es auch machen: Wir sollten "Teilhabe" im Sinne von "shareholding" begreifen! Als solche stille Teilhaber der Kultur könnten wir uns, bei welcher Beschäftigung auch immer, glücklich fühlen. Als Nichtbesucher sind wir nämlich sehr wohl doch Profiteure – im sicheren Bewußtsein, dass die Fiktion der Kultur gewahrt bleibt und dass deren Gewinne unweigerlich zu unseren Gunsten ausgeschüttet und auf unsere bestehenden Guthaben aufgeschlagen werden.

Robert Pfaller

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